Jom HaSchoa

Der Segen eines geschärften Gewissens

Anlässlich des Jom HaSchoa (israelischer Holocaust-Gedenktag) Ende April habe ich mich an einen interessanten Besuch in Chambon sur Lignon in Südfrankreich vor einigen Jahren erinnert. Der gesamte Ort hat von der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ erhalten, denn die ganze Dorfgemeinschaft beteiligte sich an der Rettung von Juden während des Holocaust. 5.000 Juden, hauptsächlich Kinder, wurden von dieser kleinen Gemeinschaft überwiegend protestantischer Christen vor den Nazis versteckt.

Geradlinigkeit und Mut

Die Geschichte von Chambon sur Lignon ist eine Geschichte einfacher Leute, die Mut und Geradlinigkeit zeigten – Mut und Geradlinigkeit, die dringend benötigt wurden und doch insgesamt Mangelware zu sein schienen. Jeder im Dorf wusste, was auf dem Spiel stand. Wenn die Deutschen die Juden entdeckt hätten, wäre das gesamte Dorf wahrscheinlich ausgelöscht worden.

Wochen nach meinem Besuch sah ich eine Dokumentation über diesen Ort und seine „Verschwörung zum Guten“. Ich erinnere mich noch gut an die Aussage einer älteren Dame, die vielen Juden geholfen hatte zu überleben. Als sie gefragt wurde, warum sie das getan hätte, schaute sie den Interviewpartner verblüfft an und rief dann aus: „Aber war es nicht genau das, was wir alle tun sollten?“. Sie war mit einem geschärften Gewissen aufgewachsen, das nicht lange darüber nachdenken musste, was in der gegebenen Situation das Richtige war. Bedürftigen Menschen zu helfen, selbst wenn es ihr Leben kosten könnte, war das, was sie von sich selbst erwartete. Als ich ihre Geschichte hörte, begann ich intensiv darüber nachzudenken, was in meinem Heimatland Deutschland schiefgelaufen war.

Identität und biblische Werte

Wie konnte es sein, dass so viele Millionen Christen während der Nazizeit nicht wussten, was sie tun sollten? – Ein Grund dafür lag sicherlich darin, dass viele Christen in Deutschland zuallererst Deutsche waren und erst dann Christen. Ihre ethnische und nationale Gesinnung verdrängte jegliche biblischen Werte, die in ihnen vorhanden gewesen sein mochten. Aus diesem Grund nannte sich der offizielle Teil der Kirche, der offen mit den Nazis kollaborierte, „Die Deutschen Christen“: zuerst kam das Deutschtum, dann das Christsein.        

Die Dorfbewohner von Chambon sur Lignon waren überwiegend hugenottische Christen mit ihrer eigenen Verfolgungsgeschichte. Sie sahen ihre Identität weniger in ihrer Nationalität als in ihrem Glauben und ihren Werten, die ihre Gemeinschaft seit Generationen geprägt hatten.

Liberale Theologie

Doch noch etwas anderes passierte in Deutschland Jahrzehnte vor der Machtergreifung Hitlers: Deutsche Universitäten wurden zum Nährboden dessen, was wir unter „Liberale Theologie“ verstehen. Die Gelehrten arbeiteten ganz bewusst daran, die Bibel ihrer göttlichen Urheberschaft zu entkleiden. Gestalten wie Abraham oder Mose wurden zu reinen Legenden erklärt und aus Wundern wurden Märchen. Diese Theologen entwickelten ein flexibles Konzept von Gott, der im eigenen Bilde eines jeden Menschen geschaffen wurde – ganz im Gegensatz zur biblischen Sichtweise, dass alle Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen sind. Sowohl die hebräischen Schriften der Bibel als auch das Neue Testament wurden aller übernatürlichen und göttlichen Aspekte entkleidet. Dies öffnete dem Missbrauch und Unglauben Tür und Tor. Gleichzeitig „säuberten“ die deutschen Theologen die Bibel auch von allem Jüdischen. Dazu wurde in Erfurt das sogenannte Entjudungsinstitut eingerichtet. Sein Ziel war es, die Bibel zu „entjudaisieren“. Christus wurde von einem jüdischen Nachkommen Davids zu einem blonden, arischen, nationalen Befreier.

Säkulare Intellektuelle in Sorge

Heute sehen wir, wie sich die Gesellschaften in Westeuropa immer mehr von den biblischen Werten entfernen. Das macht selbst säkulare Intellektuelle besorgt, wie beispielsweise den deutschen Philosophen Jürgen Habermas. Seiner Ansicht nach garantiert die Annahme, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, die Freiheit einer Gesellschaft. So kann selbst der glühendste Atheist Gott öffentlich kritisieren und in Frage stellen und doch gleichzeitig Würde und Respekt von anderen Menschen erfahren, die auch nach Gottes Bild geschaffen sind.

Biblische Werte in der Familiengeschichte

In meiner eigenen Familie galten diese Prinzipien noch, als die Nazis in Deutschland die Macht ergriffen. Es war der starke biblische Glaube meiner Großmutter, der sie dazu bewog, in kleinem Rahmen ihren jüdischen Mitbürgern Gutes zu tun. Als sich die Läden in ihrer Heimatstadt weigerten, den Juden Lebensmittel zu verkaufen, übernahm sie die Einkäufe für ihre jüdischen Nachbarn. Und mein Großvater stand mitten auf der Straße, als die Gestapo schließlich kam, um Juden abzuholen, und erklärte: „Wir sollten uns schämen, dass sich so etwas in Deutschland zuträgt“. Daraufhin besuchte die Gestapo oft ihr Haus und wies meine Großeltern wegen ihres christlichen Verhaltens und ihrer Hilfe für Juden zurecht. Ende 1944 kam die Gestapo ein letztes Mal und warnte: „Wenn Sie Ihre Aktionen nicht beenden, werden auch Sie in einem Konzentrationslager enden!“. Doch meine Großmutter antwortete mutig: „Herr Schmid, auch Sie haben eine ewige Seele, und eines Tages müssen Sie sich vor Gott dafür verantworten, was Sie unserem Land angetan haben“. Die Gestapo kam nie wieder.

Es war der starke Glaube meiner Großeltern an einen Gott im Himmel, der ihnen den Mut schenkte, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es gab Tausende weitere deutsche Christen, die zu den Juden hielten. Einige landeten im Konzentrationslager und bezahlten dafür mit ihrem Leben. Doch am Ende gab es zu wenige von ihnen.Wenn ich heute ein immer weltlicher werdendes Europa betrachte, dann bete ich für eine geistliche Erneuerung. In der Bibel lesen wir:

Das Endziel des Gebotes (der Tora) aber ist Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen.

1.Tim 1,5

In Europa müssen wir uns unser Gewissen erneut schärfen lassen.


Dr. Jürgen Bühler

ist der Präsident der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem (ICEJ).